Neues aus der "Werkstatt"

Tieffahrt zur hôchvart
 

Eine absolut wahrheitsgetreue Bonusgeschichte für alle Freunde Reimeschmieds1

 

Geistig wieder völlig gesundet, kehrte ich nach Bovec zurück. Nicht ging ich – wie einstens Lenz2 – durchs Gebirg. Nein, ich fuhr. Auch war es nicht der 20. Januar, an dem ich reiste, sondern bereits Frühling. Nach Ostern, das spät fiel im Jahr.

Auf der Passhöhe des Vršič lag immer noch reichlich Schnee an den Straßenrändern und die Schafe blökten unten im Tal.

Knapp nach der Passhöhe, bevor sich die an Kehren reiche Straße nach unten ins Trentatal schraubte, bremste ich scharf. Ein Lastkraftwagen mühte sich entgegenkommend die letzten Kehren herauf und benötigte dafür beide Fahrbahnseiten. Dass er das Lkw-Fahrverbot über den Vršič missachtet hatte, dürfte den Lenker des Schwerfahrzeugs bereits gereut haben. Behäbig, gleichzeitig immer wieder geschickt, geradezu anmutig reversierend, kurvte der wackere Mann um die Kehren – da half nur warten …

Ich drückte bei der Weiterfahrt ein wenig aufs Gas, was man auf stark abschüssigen Bergstraßen eigentlich nicht tun sollte. Aber Reimeschmied würde in Bovec schon warten und ich wollte nicht, dass er sich Sorgen machte.

Schon hatte ich die Mehrzahl der giftigen Kehren hinter mir gelassen und Kugys Denkmal beim Vorbeifahren gegrüßt. Schon fuhr ich durchs Trentatal hinaus, vorbei an der kleinen, idyllisch gelegenen Kirche Maria Loreto. Baron Heinrich Attems hatte sie im Jahr 1690 erbauen lassen, damit seine Bergwerksarbeiter hier in der Einöde ein Gotteshaus hätten. Damals wurde im Tal nach Eisen geschürft; am gegenüberliegenden Ufer der an dieser Stelle sehr jungen Soča sollen noch Reste der Verarbeitungsstätten zu sehen sein.

Dem Nationalparkzentrum des Triglav-Nationalparks in Trenta schenkte ich beim Durchbrausen keine Aufmerksamkeit, obwohl sie dort schöne Kugelstifte mit Holzgehäuse3 verkauften.

Die Sočatröge, das sind große, vom Wasser wunderbar ausgewaschene, türkis in der Sonne torkelnde, teils tiefe Gumpen, interessierten den eilig Reisenden ebenfalls nicht in der Intensität, die sie verdient hätten. Das Naturschauspiel musste warten.

Dann das Dörfchen Soča, gleichnamig dem vorbeirauschenden an dieser Stelle Noch-Wildbach. Friedlich lag es im Halbschatten der Berge da, während der Nazibesatzung freilich soll es eine Partisanenhochburg gewesen sein. Trügerisch oft der Schein …

Bald ging es nach Bovec hinaus, wo sich das Tal weitete. Die Kehre über den Bach, die langgezogene Linkskurve hin zur Kreuzung mit der Straße vom Predilpass herunter, den Blinker gegeben und ein letztes Mal aufs Gas gedrückt, bevor ich den Wagen am Bankett, halb in der Wiese, parkte. Hier zweigte ein Abschneider nach dem Freilichtmuseum Ravelnik ab, wo Reimeschmied auf mich warten sollte. Den Weg durch den frühlingshaft lichten Laubwald kannte ich gut. Wie oft war ich ihn entlanggegangen! Ein wenig ausgetreten erschien er mir, fast ein Trampelpfad. Schotter vermeinte ich ebenfalls am ein oder anderen Fleck auszumachen, so wie man mit Wegestellen verfuhr, die unter allzu großer Belastung gebrochen waren. In die gröberen Schlaglöcher hatte man Pickschotter gestopft, um die Waagerechte wieder einigermaßen herzustellen. Wieso waren hier so viele Leute durchgelatscht?

Ich näherte mich dem Eingang des Freilichtmuseums, in dem man anhand originaler Bau- und Stollenwerke die Trostlosigkeit des Ersten Weltkriegs schrecklich hautnah vermittelt bekam. Im Gegensatz zu meinen letzten Besuchen zeigte sich der Zugang zum Areal breiter, offener. Obwohl immer noch Waldweg unter kühlem Blätterdach, gestaltete sich alles so ausladend, dass der Lkw, dem ich bei der Anreise begegnet war, hier weniger Probleme gehabt hätte als bei der verbotenen Fahrt über den Vršič-Pass.

Ja, hol’s der Teufel – als hätten sich meine Gedanken manifestiert, parkte doch wirklich ein Autobus neben dem Wellblechverschlag, der den Museumszutritt und damit den Beginn der Zeitreise in den Großen Krieg markierte.

Was war da los?

* * * * *

„Sei gegrüßt, mein alter Freund, es erfreuet besonders
mich, zu sehen dich. Gesund und ein wenig auch munter

dünkt mir das wohlvertraut‘ Gesicht. Komm her und erlaube

in die Arme zu nehmen dich, vertrautester Kumpel!“

Komisch. Reimeschmied sprach in ungereimten Hexametern4, statt wie früher in deftigen Knittelversen auf die Sprache einzudreschen. Auch dicker schien er mir geworden; das Männlein zwar immer noch kaum mehr als einen Meter hoch, spindeldürr der lange Hals und auch die Armebeine. Aber in der Mitte, da wölbte sich doch deutlich eine kleine Kugel. Und, der Qualm verpestete den gesamten Eingangsbereich der unterirdischen Kaverne aus dem Ersten Weltkrieg, Reimeschmied rauchte eine feiste Zigarre!

Warum und welche Veränderungen seit meinem letzten Besuch hier vorgegangen waren, erklärte mir Reimeschmied in weiteren holprigen Hexametern.

„Deine Schriften, Freund, die wurden gern und von vielen
Menschen gelesen. Studiert, sie riefen Reiselust nach den

Plätzen hervor, die wir zu zweit besuchten im Orkus.

Diesen helf ich und führe die neugier’gen Leut‘ in die dunkle

Welt da unten. Dafür krieg ich Geld aus den Taschen

meiner Gäste und investier es in ‚Reimeschmieds Reisen‘.“

Und wirklich: Meine Aufzeichnungen der Unterweltfahrten, die ich gemeinsam mit Reimeschmied unternommen hatte, waren beim Volk gut angekommen und wohlwollend aufgenommen worden. Man las darüber in den Gazetten und im Radio luden sie mich zum Gespräch5. Die geneigte Leserin/der geneigte Leser werden sich erinnern: In der schmalen Schrift schilderte ich meinen ersten Eintritt in die Welt unter Tage, wie ich gar nicht glauben wollte, was mir widerfuhr; dann die Suche mit meinem neuen Freund nach Frieden im Orkus; unterbrochen immer wieder von Reimeschmieds Bedrängnissen, sei es in Todesgefahr durch in ihrer Ehre gekränkte Offiziere, sei es durch Liebeswirren oder auch nach allzu intensivem Drogenkonsum.

All das dürfte die Leserschaft inniglich berührt haben und nach und nach strömte man Ravelnik zu, um sich selbst ein Bild zu machen. Traf eine/r zufällig Reimeschmied, fragten die Wackersten unter ihnen nach einer Mitfahrmöglichkeit in die Unterwelt. Anfangs irritiert und zögerlich, willigte Reimeschmied gelegentlich ein und nahm den ein oder die andere Wissbegierige mit auf die Reise. Man entschädigte ihn und langsam reifte in Reimeschmied die Erkenntnis, dass mit den Unterweltfahrten Geld zu verdienen sei. „Reimeschmieds Reisen“ ward geboren, wahrscheinlich das erste Reisebüro, das sich auf Reisen in die Unterwelt spezialisierte. Weltraumausflüge konnte man schon lange buchen (wenn auch noch nicht antreten), aber in den Orkus reisen, das war neu!

Wir wollen nicht Gefahr laufen, die geneigte Leserin/den geneigten Leser zu langweilen, und kürzen deshalb ab: Der Rubel rollte, sprichwörtlich gesprochen nur, denn Russen kamen infolge der Sanktionen selten nach Ravelnik, um in die Unterwelt zu fahren. Reimeschmied wurde reich, zum echten Chef also, und gerierte sich im Übermut entsprechend. Sogar den Hexameter bemühte er statt des Knittelverses, weil er ihm vornehmer erschien als der gute alte mittelalterlich gereimte Reim.

Negativer Nebeneffekt: Wie Reimeschmieds Geldbeutel sich bis zum Platzen zu füllen begann, so wuchs auch sein Ego. Er wurde hoffärtig – eine traurige Entwicklung, die mir beim Wiedersehen sofort ins Auge stach. Zigarre und neues Versmaß waren die äußerlich sichtbaren Merkmale dieser dramatischen Veränderung des Freundes.

Das gedachte ich schleunigst abzustellen und ihm die neureichen Flausen auszutreiben. Die stolze Hoffart musste weg, detto der blöde Hexameter!

* * * * *

„Los!“, kommandierte ich kurz. „Fahren wir ins 13. Jahrhundert!“

So lange und so weit war Reimeschmied noch nicht Chef, dass er nicht unverzüglich tat, was ich befahl. Er drückte die Zigarre aus und wir brachen durch die Jahrhunderte auf. Sternengleich zogen wichtige Ereignisse in der Menschheitsgeschichte an uns vorbei: Die Entdeckung des Penicillins, die Erfindung des Buchdrucks oder die erste Überfahrt nach Amerika; leider waren es aber meist Kriege, die auf unserer Unterweltfahrt zurück in der Geschichte auffunkelten: Vietnamkrieg, Zweiter Weltkrieg, Erster Weltkrieg, Deutsch-Französischer Krieg, Dreißigjähriger Krieg, diverse Türkenkriege, Bauernkriege und Erbfolgekriege, die Hugenottenkriege oder – gschmackiger Name für üble Dinge – der Krieg der Liga von Cognac, um nur ein paar der gefühlt hunderttausend kriegerischen Auseinandersetzungen zu nennen.

All das eilte in außerordentlicher Klarheit und Schärfe an uns vorüber; man merkte Reimeschmieds gegenüber den im „Bovec“-Buch beschriebenen Unterweltfahrten gewonnene Erfahrung. Kein Wunder, als gefragter Reisebüroleiter fuhr er praktisch täglich in die Tiefe (und zurück).

Im Jahr 13-hundertundirgendwas zog ich die Notbremse. Laune der Geschichte, egal ob vorwärts oder zurück – wir landeten erst wieder in einem „Krieg“, obwohl ich Reimeschmied eigentlich nur den Hexameter und die Hoffart abstellen wollte: im legendären Sängerkrieg auf der Wartburg6.

Der Wettstreit im prächtigen Palas der Burg war bereits im Gange. Da standen/saßen sie alle auf der Empore oder zu ebener Erd‘ des nach ihnen benannten Sängersaals: Walther von der Vogelweide; Wolfram von Eschenbach; der Tugendhafte Schreiber; Reinmar; Biterolf; Heinrich von Ofterdingen. Letzterer der klare Außenseiter, lobte er in seinen Gesängen doch seinen Herrn Leopold VI., den Babenberger-Fürsten von Österreich, während die anderen ihre Lobgesänge auf den Thüringer Fürsten Landgraf Hermann I. anstimmten. Nur der sagenhafte Klingsor war nicht zugegen; der weilte noch in Ungarn, man hatte noch nicht nach ihm geschickt.

Gebannt lauschte Reimeschmied den Gesängen, in denen das Lob je nach Darbietendem einmal hierhin, einmal dorthin wogte.

„Ir herren, hoerent mich ein teil:
des fürsten tugent ûz Ôsterrîche die wil ich iu zeln.

swenne er wol getuot, sô wirt er geil,

Got kunde in selbe weln“7,

lobte der Ofterdinger gleich munter drauflos.

Der Schreiber hielt dagegen:
„Sîben fürsten sint des wert,

daz in ein roemisch künic ist ze welenne benant:

die enkiesent niht wan des der edel gert,

Herman von Dürengen lant.“8

Und wenn ein König nicht entspreche, so der Tugendhafte Schreiber weiter, dann ersetze Hermann von Thüringen den Unfähigen einfach durch einen neuen Kandidaten, wie man an Kaiser Otto von Braunschweig sehen könnte. Dann fuhr er dem Heinrich von Ofterdingen ordentlich übers Maul und hieß ihn schweigen:
„Heinrich von Ofterdingen swîc

und miz ouch gein einander niht daz ungemezzen sî.“9

So ging das hin und her, der eine (Sänger) lobte den anderen (Herrscher) und der andere (Dichter) lobte den einen (Herrn). Reimeschmied hing an ihren Lippen und bald wurde ihm klar: Wer auch immer sang und wen auch immer er lobte, ausnahmslos erfolgte die Rede in (kreuzweise) gereimten, vier- bis sechshebigen Versen – niemals im Hexameter.

„Hörst du?“, sagte ich ein wenig süffisant zu Reimeschmied. „In Hexametern dichtet hier kein Mensch. Und es sind nicht die Schlechtesten aus der reimenden Zunft, die sich im Gesange messen.“

Unerwartet schnell gab Reimeschmied sich geschlagen. Er stimmte zu und reimte zum Beweis bereits wieder im guten alten Knittelvers:

„Mein Herr und Meister, tausend Dank!
Der Griechenvers, der macht‘ mich krank.

Ich drohte zu verstummen schon,

im Sechsmaß dichtend. Wie zum Hohn

klangen meine Worte hohl

und leer und bar der Botschaft. Wohl,

so fühle ich mich wieder nun,

kann gereimte Reime tun!

Ein wahrer Chef, der muss nicht dichten,

wie’s die alten Griechen richten.“

Schön, das wäre fürs Erste geschafft …

* * * * *

Ich hätte in der Unterwelt mit Reimeschmied weiterreisen wollen. Schauplätze außerordentlicher Hoffart ihm zu zeigen, war mein Ziel. Das sollte abschreckend wirken und ihm ein Zerrbild seiner selbst vor Augen führen. Die dadurch gewonnene Abscheu seines Verhaltens würde ihn in der Folge von der Hoffart heilen. Doch der kleine Bursche zeigte keinerlei Anstalten zum Aufbruch.

Er rückte näher an die Minnesängerschar heran; man hätte glauben können, er werde zum Teil der Szenerie im Wartburger Sängersaal, wo Walther gerade vortrug:

„Walther von der Vogelweide sô bin ich genant.
unbilde wil an mir den zorn erwegen,

daz Ôsterrîch daz lant

Und ich ze hazze sîn gedigen …“10

Was dann folgte, dürfte nicht nur dem Vogelweider die Sicherungen rausgeschmissen haben, wie man heute so schön sagen würde. Reimeschmied stellte sich vor dem berühmten Minnesänger frech in Positur und begann selbst zu reimen. Ich war aufrichtig erschüttert, nicht nur als Germanist und Mittelaltereinwenigerforscher, sondern als Mensch, Kunst- und Literaturliebhaber. So ging man mit unser aller Kulturerbe nicht um, nicht einmal wenn man den Altvorderen gram gewesen wäre, weil sie nicht schon seit Adam und Eva genderten (was ich selbst sowieso nicht tat) und von der „Männin“ schrieben, wenn sie die Frau meinten. Nein, Freund Reimeschmied, so ein Verhalten ziemte sich UNTER KEINEN UMSTÄNDEN!

Ungerührt dichtete dieser:
„Reimeschmied, so ist mein Nam.

Zorn, den fühl ich nicht, auch Scham

erkenn ich nicht. Aus Österreich,

da stammt mein Freund – ich sag es gleich!“

Walther von der Vogelweide schaute irritiert und ich wünschte, der Erdboden, nein, der Unterweltboden möchte sich auftun und mich verschlucken, so tief, wie es aus dem beginnenden 13. Jahrhundert halt möglich wäre.

Der Boden hatte kein Erbarmen; Reimeschmied ebenfalls nicht. Unverdrossen wandte er sich dem nächsten Minnesänger zu, der verdichtend sang. Reinmar also sagte:
„Jane mac der edel ûz Ôsterrîch der tugende niht getragen

alsô der Dürenger here nu vor allen fürsten hât.

swer überladet sînen wagen

der brichet ein. Dîn singen ûz eins tôren munde gât.“11

Bevor Heinrich von Ofterdingen widersprechen oder einer der anderen Teilnehmer am Sängerkrieg Reinmars Geringschätzung des Österreichers gegenüber dem Thüringer Fürsten untermauern hätte können, ergriff Reimeschmied das Wort bzw. die Verse:

„Österreich die Heimat meines
Freundes ist. Gar nichts Geheimes

gibt es an der Sache. Reimes

Schmied, so nennt man mich fürwahr.

Ich find es toll und wunderbar,

das Loblied anzustimmen seines

großen Herzens, Geists und Hirnes.

Eure Rede klingt verdreht,

sie gleicht der Spule eines Zwirnes –

so klingt der Sinn von eurer Red‘.“

Eigentlich hätte ich ja stolz über Reimeschmieds Lob auf mich, den Österreicher, sein können. Angestachelt durch die Sprachgewalt der besten Sänger des Mittelalters, brachte er es sogar in raffinierteren Reimen vor – umarmend (Vers 1 und 6) hatte er früher noch nie gereimt, detto nicht kreuzweise (die Verse 7 und 9 sowie 8 und 10).

Was wir damals freilich (noch) nicht wussten: Beim Wettstreit der Minnesänger auf der Wartburg ging es nicht um die Plätze eins, zwei, drei usw. usf. Auch winkte dem Sieger im Sängerstreit nicht der Goldpokal und dem Verlierer kein Braunschweiger Kranzel. Nein, im Sängerkrieg auf der Wartburg sang man um sein Leben!

„swer hie empfâhet sigelôsen teil,
daz ist mîn ger,

wide unde seil

schaffe unser eim der hâher morgen her“,

forderte Walther von der Vogelweide gleich zu Beginn forsch und offenbar in vollem Vertrauen auf sein Können. Wer also im Gesange unterlag, dem sollte der Henker am nächsten Tag Galgen samt Strick herbeischaffen. Sogar des Scharfrichters Namen kannte man: Stempfel ward er geheißen.

Den Ernst der Lage bewies auch folgende Episode: Den Heinrich von Ofterdingen konnte letztlich nur die Gastgeber-Fürstin Sophia vor dem Strang bewahren …12

Weil Reimeschmied gar flott mitdichtete mit den Sängern des Wartburger Spektakels, war er natürlich „part of the game“, wie man auf Neudeutsch so treffend sagte. Mitgefangen, mitgehangen – im wahrsten Sinne des Wortes.

Und weil Reimeschmied gegen die Größten ihrer Zunft anzudichten sich gemüßigt sah, verwunderte es nicht, dass er schnell ins Hintertreffen geriet. Seine bescheidenen Reimereien gegen die in der Folge Jahrhunderte überdauernden Versmonolithen – das konnte nicht gut gehen. Sogar der Ofterdinger bekam wieder Oberwasser, obwohl er den falschen Fürsten pries. Mit einem Wort: Reimeschmied, dem Gast aus der fernen Zukunft, schlug bald schlechte Stimmung entgegen. Im Wartburger Sängersaal brodelte es, doch die heiße Suppe auszulöffeln, wollte Reimeschmied mit seinen Knittelverschen nicht und nicht gelingen. Scharfrichter Stempfel spielte bereits bedrohlich mit dem Strick! Wie ein Rosenkranz glitt er geschwind durch seine Finger …

Planlos, wie ich helfen könnte, schrie ich spontan in die Unterwelt: „Wagner!“

Der alte Komponistenknabe hatte ja schon einmal die Rezeption des Sängerkriegs auf der Wartburg entscheidend beeinflusst, indem er den überhaupt nicht anwesenden Tannhäuser in seiner Oper prominent in Szene setzte. Vielleicht hatte er eine Idee, wie man Reimeschmieds Hals aus der sich bedrohlich zuziehenden Schlinge auf der Wartburg ziehen könnte. Umgekehrt zu seiner Oper sozusagen, statt eine Person hinzuzudichten, eine Person herauszuhauen, und hoffentlich ohne Musik!

Plötzlich zischte, brauste und toste es in der Unterwelt, als suchte ein gewaltiges Unwetter das 13. Jahrhundert genau über der Wartburg heim. Was braute sich da zusammen? Wer war’s, der unter solchem Getöse in die Tiefen des Orkus abstieg?

Wagner war’s.

Anfangs bemerkte ich gar nicht, dass der sich schemenhaft aus dem Gewitter schälenden Erscheinung der mächtige Backenbart fehlte. Auch die ausladende Baskenmütze, später als Wagnerkappe bekannt geworden, hatte sie nicht auf dem Kopf. Überhaupt: Die Gestalt vor mir ähnelte auch von der Kleidung ganz und gar nicht den Fotos, die es vom Meister ja, wenn auch in geringer Zahl, bereits gab. Es dauerte, bis mir götterdämmerte, dass die Erscheinung vor mir nicht der Komponist Richard Wagner war, sondern Wagner, der Famulus Fausts aus Goethes gleichnamigem Trauerspiel.

„Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;

Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,

Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht“13,

sprach der berühmteste Studiosus der Literaturgeschichte.

Zurückversetzt in den Zeiten hatte Famulus Wagner sich perfekt, das musste man neidlos anerkennen, er war bei uns zu Beginn des 13. Jahrhunderts gelandet. Weise Männer zu schauen gab es ebenfalls: Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide und die anderen Minnesänger, vom Fürsten14 ganz zu schweigen.

Was die alle dachten, zu ergründen, war jetzt freilich nicht die Zeit. Es galt, Reimeschmied rauszuholen, und dafür konnte auch der falsche Wagner gute Dienste tun.

Unvermittelt fragtesagte ich: „Famulus, kennt ihr neben eurem Meister Faust auch den übergeordneten Meister, den Goethe mein‘ ich?“

„Der Vater zeigt sich seinem Knaben“15,
antwortete der Angesprochene.

Ich deutete es als Ja.

„Und kennt ihr auch des Meistermeisters, Goethes also, bedeutendstes Gedicht, ‚Der Zauberlehrling‘?“, bedrängte ich Wagner.

„Ja, deine Gunst verdient er ganz und gar“16,
sagte dieser.

Flehentlich bat ich: „Dann könnt ihr vielleicht auch die Wasser beschwören wie in dem Gedicht? Ihr wisst schon: ‚Walle! walle / Manche Strecke, / Daß zum Zwecke / Wasser fließe, / Und mit reichem, vollem Schwalle / Zu dem Bade sich ergieße!‘ Und wenn ihr dieses Wasser nun durch die Wartburg hindurchleitet, dann könnte es den ganzen Albdruck hinwegschwemmen und Reimeschmied retten. Wie im Gedicht: ‚Naß und nässer / Wird’s im Saal und auf den Stufen. / Welch entsetzliches Gewässer!‘“

Wagner überlegte, dann sagte er:
​​​​​​​„Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben,

Durch die man zu den Quellen steigt!

Und eh man nur den halben Weg erreicht,

Muß wohl ein armer Teufel sterben.“17

Auch die verdrehte Rede deutete ich als Ja.

Und eh ich michs versah, begann es zu regnen in der Burg. Es ergoss sich in Strömen, aus unsichtbaren Wolken flossen Wass und Wässer, es wurde wie beim Zauberlehrling nass und nässer. Hätte rund hundert Jahre später, 1317, eine ähnliche Sturzflut die Wartburg heimgesucht – der Palas wäre wohl nicht infolge Blitzschlags abgebrannt.

Den „Zauberlehrling“, so Famulus Wagner im Regenguss, hätte ohnehin er geschrieben, Goethe nur ein paar dichterische Akzente zum Drüberstreuen gesetzt.

Reimeschmied und ich schwammen in den Fluten davon …18

Anmerkungen

1. Reimeschmied ist der ungelenke, zugleich liebenswürdige Held des Buchs „Bovec. Wahrheitsgetreuer Bericht einer verrückten Reise“ von Reinhard M. Czar. Vehling Verlag. Graz, 2024.

2. Jakob Michael Reinhold Lenz, ein heute weitgehend in Vergessenheit geratener Schriftsteller des 18. Jahrhunderts; in Georg Büchners berühmter Novelle „Lenz“ wandert der psychisch kranke Dichter knapp nach Jahresbeginn „durchs Gebirg“ nach dem elsässischen Waldersbach im Steintal, bei Büchner schlicht Waldbach genannt, wo ihn der Pfarrer Oberlin eine Zeit lang aufnimmt.

3. Mit einem davon wurden diese Aufzeichnungen ursprünglich handschriftlich notiert.

4. Der Hexameter ist das klassische Versmaß der griechischen und römischen Antike. Er besteht aus sechs langen Silben, denen jeweils ein bis zwei kurze Silben folgen. Auch in der deutschen Klassik, beispielsweise bei Goethe und Schiller, kam der Hexameter zum Einsatz, wobei im Deutschen statt der Längen/Kürzen betonte und unbetonte Silben aufeinanderfolgen. Der Hexameter wird nicht gereimt.

5. Gemeint ist das Buch: „Bovec. Wahrheitsgetreuer Bericht einer verrückten Reise“ von Reinhard M. Czar. Vehling Verlag. Graz, 2024. Artikel/Buchbesprechungen erschienen u. a. im Alpe-Adria-Magazin, in der Jagdzeitschrift DER ANBLICK, im Bezirkstrommler, im Fazit-Magazin, in der Grazetta und in der Online-Ausgabe der Sindelfinger-Böblinger Zeitung; im Literaturmagazin „Lesezeit“ von Radio Steiermark sprach der Autor in einem langen Beitrag über das Buch.

6. „Der Sängerkrieg auf der Wartburg“ ist ein legendäres Stück mittelalterliche Literatur. Man datierte die Geschehnisse in der Burg bei Eisenach ursprünglich auf die Jahre 1206/1207.

Neueren Forschungen zufolge hat der Sängerkrieg vermutlich gar nicht realiter stattgefunden, sondern man sieht darin vielmehr eine Zusammenstellung mehrerer mittelalterlicher Gedichte unterschiedlichen Alters und verschiedener Länge.

Inhaltlich beschreibt die Sammlung ma. Texte das Aufeinandertreffen sechs berühmter Minnesänger auf der Wartburg. Es gilt, ein Fürstenlob vorzutragen. Fünf Sänger – Biterolf, Reinmar, der Tugendhafte Schreiber, Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach – preisen Landgraf Hermann I. von Thüringen als besten Herrscher unter der Sonne. Einer – Heinrich von Ofterdingen – stellt Leopold VI. über alle anderen Herren. Obwohl der Wettstreit nicht eindeutig entschieden ist, fordert man den Kopf Heinrichs, der sich unter den Schutz von Hermanns Gemahlin, Fürstin Sophia, flüchtet. Meister Klingsor aus Ungarn wird gerufen, den Streit zu schlichten. Soweit der erste Teil des Gedichts, benannt „Fürstenlob“.

Im zweiten Teil, dem „Rätselspiel“, liefern sich der aus „Ungarlant“ angereiste Klingsor und vor allem Wolfram von Eschenbach eine Auseinandersetzung zu allerlei moralisch-theologischen Themen in allegorischer Rätselform. Klingsor, im Gegensatz zu den anderen teilnehmenden Minnesängern keine historisch verbürgte Gestalt, sondern eine sagenhafte, ruft sogar den Teufel zu Hilfe, weil er nicht glauben will, dass Wolfram alle Rätsel ohne magisches Zutun lösen hat können.

Je nach ma. Handschrift sind unter dem Sängerkrieg-Titel weitere Teile überliefert, darunter „Zabulons Buch“ u. a.

In der Romantik, generell gerne dem Mittelalter zugetan, fand der Sängerkrieg auf der Wartburg wieder großes Interesse. Richard Wagner komponierte eine Oper, „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg“, wobei Tannhäusers Anwesenheit bei dem Spektakel definitiv eine Erfindung Wagners ist. Von Bedeutung für die Entstehung des Mythos um den Sängerkrieg auf der Wartburg war auch Moritz‘ von Schwind Fresko, das er im 19. Jahrhundert am angeblichen Originalschauplatz des Wettsingens auf der Wartburg an die Wand malte.

7. Frei übersetzt aus dem Mhd.: „Ihr Herren, hört mir zu: Von der Tugend des Fürsten aus Österreich möchte ich euch erzählen. Wenn er gut handelt, freut er sich, Gott selbst würde ihn wählen.“

8. Frei übersetzt aus dem Mhd.: „Sieben Fürsten sind es wert, einen römischen König zu wählen: Sie wählen keinen, den nicht der edle Hermann aus dem Thüringer Land will.“

9. Frei übersetzt aus dem Mhd.: „Heinrich von Ofterdingen, schweig und vergleich keine Äpfel mit Birnen!“

10. Frei übersetzt aus dem Mhd.: „Walther von der Vogelweide heiße ich. Unrecht erweckt in mir den Zorn, dass Österreich und ich sich hassen …“

11. Frei übersetzt aus dem Mhd.: „Unter all den Fürsten hat der Edle aus Österreich kaum das Maß an Tugend wie der Thüringer. Wer seinen Wagen überlädt, der bricht ein. Dein Singen kommt aus dem Munde eines Toren.“

12. Der im Wettstreit unterlegene Sänger sollte hingerichtet werden – heutigen Ohren mag das makaber und übertrieben klingen. Freilich entspricht die Darstellung der historischen Realität bzw. deren in den ma. Texten überlieferten Version; über die Wahrhaftigkeit des Sängerkriegs auf der Wartburg wurde ja bereits ausführlich rapportiert.

13. Dabei handelt es sich um ein Zitat aus: „Faust. Der Tragödie erster Teil“ von Johann Wolfgang Goethe; Vers 570–573.

14. Der Fürst weise???

15. Ebenfalls ein Zitat aus „Faust“; Vers 1015.

16. Und wieder ein Zitat aus „Faust“; Vers 1176.

17. Abermals „Faust“; Vers 562–565.

18. Die Stelle lässt die Leserin/den Leser ein wenig ratlos zurück. Im Gegensatz zum historisch verbürgten Brand der Burg wegen eines einschlagenden Blitzes im Jahr 1317 findet sich in den Akten keinerlei Hinweis auf ein Starkregenereignis im Raum Eisenach zum Zeitpunkt des Wartburger Sängerkriegs. Sehr wohl ist jedoch ein Hochwasser im infrage kommenden Zeitraum (1206 n. Chr.) für den Rhein verbürgt. Im genannten Jahr, für das ursprünglich der Sängerkrieg datiert wurde, zerstörten Wassermassen die Pfarrkirche von Lustenau, die freilich Hunderte Kilometer von der Wartburg entfernt liegt. Es war übrigens das erste Hochwasser in den Aufzeichnungen.

Wer Reimeschmied bisher nicht kannte und auf den Geschmack gekommen ist, dem sei das Buch "Bovec. Wahrheitsgetreuer Bericht einer verrückten Reise" mit vielen weiteren Abenteuern Reimeschmieds im Laufe der Geschichte empfohlen. Es ist im Vehling-Verlag erschienen und auf dessen Homepage www.vehling.at erhältlich.

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